Das Letzte seiner Art

OV/UT – Deutschland 2021 – FSK12 (Okkultismus)

Schon ein paar Tage vorher hatte Oskar versucht, die Kettensäge zu starten. Aber selbst nach dem wahrscheinlich hundertsten Versuch, machte der Motor keinerlei Anstalten anzuspringen.

Wenig hoffnungsvoll holt Oskar die Kettensäge aus dem Schuppen und nimmt die Starterstellung ein, zieht und zack – an! Knatternd und anfänglich qualmend gibt die Kettensäge zu verstehen, dass sie bereit zum Angriff ist.
Oskar bereitet sich darauf vor, den alten Holunder aus dem Weg zu räumen. Er setzt sich den Gehörschutz und die Schutzbrille auf, zieht die dicken Arbeitshandschuhe an und startet die Kettensäge.

Gerade als er für den ersten Schnitt ansetzen will, nimmt er seitlich von sich, dort wo der von Rosen überwachsene, alte Apfelbaum steht, eine schnelle Bewegung wahr. Sofort schaltet er die Kettensäge ab und beobachtet, was dort geschieht.

Anja und Oskar stockt der Atem vor Überwältigung von dem, was sie zu Gesicht bekommen. Fasziniert und mit einer gewissen Demut erkennen sie, dass sich unter dem alten Apfelbaum – verborgen hinter einem Vorhang aus Rosentrieben – ein Einhorn versteckt hielt, das vermutlich vom lauten Knattern der Kettensäge aufgeschreckt und aus seinem Versteck getrieben wurde.

Mit großen Augen schauen sie dem phantastischen, strahlend weißen, ja, fast glitzernd schimmernden Tier nach, wie es versucht in den oberen Teil des Gartens zu fliehen. Aber auch für das Einhorn gibt es dort kein Durchkommen. Also dreht es um und galoppiert in die entgegengesetzte Richtung, die Rampe hinunter, am Haus vorbei, durch das Tor und auf die Straße.

Sprach- und fassungslos verfolgen sie die irgendwie anmutig, wie in Zeitlupe wirkende Flucht dieses wundervollen Geschöpfes, bis es vom nur einmal täglich verkehrenden Linienbus, direkt vor ihrer Einfahrt in voller Fahrt erfasst wird, während Anja und Oskar gleichzeitig ein „Autsch!“ über die Lippen gleitet. Bei diesem Zusammenprall lässt das Einhorn nicht nur augenblicklich sein Leben, sondern es bricht auch sein Horn ab, so dass es nun nicht mehr als Einhorn zu erkennen ist.

Anja rennt geistesgegenwärtig los, greift sich das Horn und schließt das Tor zur Straße, bevor jemand den Ursprung des Unfalls bei ihnen vermuten könnte.

Oskar indes steht erstarrt da, blickt traurig ins Leere und denkt an Sauerbraten.